Erschöpfung

Autor:  Barbara Grießmeier, Iris Lein-Köhler, Zuletzt geändert: 28.08.2023 https://kinderkrebsinfo.de/doi/e260920

Wenn die Zeit der intensiven Therapie Ihres Kindes vorüber ist, empfinden viele Mütter und Väter eine manchmal fast grenzenlose Erschöpfung. Jetzt erst können Sie als Eltern wahrnehmen, wie anstrengend und fordernd die vergangenen Monate waren und was Sie geleistet haben:

  • Versorgung des kranken Kindes in der Klinik und zu Hause
  • Management von Untersuchungsterminen und Arztgesprächen
  • parallel dazu Organisation des übrigen Familienalltags
  • Umgang mit Unplanbarkeit und Ungewissheit
  • Reaktion auf kleinere oder größere Krisen
  • hohe emotionale Belastung durch Miterleben wechselnder körperlicher Beschwerden Ihres Kindes, die Sie oft nicht beeinflussen konnten
  • starkes Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber der Situation

Sie haben leidvolle Zeiten nicht nur bei Ihrem eigenen Kind, sondern auch bei anderen Kindern und deren Familien erlebt. Vielleicht zum ersten Mal in Ihrem Leben waren Sie direkt mit tiefgehenden Fragen nach Tod und Leben konfrontiert. Die Bewältigung dieser praktischen und emotionalen Belastungen hat Ihnen sehr viel abverlangt. Gleichzeitig waren Sie ständig darum bemüht, Ihr krankes Kind (und Ihre anderen Kinder) zu trösten, aufzumuntern und zum Durchhalten zu motivieren; obwohl Sie oft selbst daran gezweifelt haben, wie Sie das schaffen können.

Zu Beginn der Erkrankung fragten Sie sich, ob und wie Sie diese Zeit bewältigen würden und konnten sich gar nicht vorstellen, woher Sie die Kraft dazu nehmen sollten. Wie alle Eltern sind Sie nicht an der Größe der Aufgabe gescheitert, sondern die täglichen Notwendigkeiten und die Liebe zu Ihrem Kind haben Sie immer aufs Neue motiviert, weiter zu machen und durchzuhalten.

Jetzt, wo alles geschafft ist, merken Sie deutlich, wie anstrengend das war und wieviel Energie Sie aufbringen mussten. Das Gefühl der Erschöpfung nach solch einem „Marathonlauf über viele Monate“ ist völlig normal. Sie haben durchgehalten, solange es nötig war und haben funktioniert. Nun möchten sich Ihr Körper und Ihre Seele von der Anstrengung erholen und sich endlich ausruhen!

Um überhaupt wieder nach vorne schauen und vom „Überlebensmodus“ in einen „Normalmodus“ wechseln zu können, brauchen Sie ein Mindestmaß an Energie und müssen Ihre Batterien erst wieder auffüllen. Sie dürfen sich nach dieser Anstrengung, in der Sie in hohem Maße für andere (in erster Linie für Ihre Kinder) gesorgt haben, wieder mehr auf sich besinnen und nachspüren, was Sie selbst jetzt brauchen.

Ich sollte erleichtert sein, mir geht es aber schlecht

Fast alle Eltern – und insbesondere der Elternteil, der den größeren Teil der Versorgung des kranken Kindes übernommen hatte – fiebern monatelang auf das Ende der Therapie hin: Vom ersten Tag an schien Ihnen die Behandlung Ihres Kindes wie ein riesiger Berg an Anforderungen, den Sie zusammen mit Ihrem Kind bewältigen mussten. Sie haben das Therapieprotokoll „abgearbeitet“ in Erwartung des Tages, an dem alles vorbei und Ihr Leben wieder normal sein würde. Neben der Erleichterung darüber, dass Sie diesen großen Berg „geschafft“ haben, machen sich bei vielen Eltern eine ganze Reihe unerwarteter und unangenehmer Gefühle bemerkbar, die manchmal die Freude ganz überdecken können:

Sehr viele Eltern berichten nach dem Ende der Therapie von einem starken Gefühl der Verunsicherung: Sie fragen sich, ob nun wirklich alles getan wurde, damit Ihr Kind gesund werden kann, und auch gesund bleibt.

So sehr Sie das Therapieprotokoll als „Taktgeber“ für Ihr gesamtes Leben in den vergangenen Monaten vielleicht sogar „gehasst“ haben – so sehr wird Ihnen jetzt klar, dass genau dieses Schema wie ein Geländer war, an dem Sie sich orientieren konnten. Das Protokoll und die ÄrztInnen Ihres Kindes haben Ihnen genau vorgegeben, was nötig ist, damit Ihr Kind gesund werden kann; und die Sicherheit dieses Plans fällt jetzt weg.

Diese „Planlosigkeit“ kann eine starke Verunsicherung auslösen und Sie müssen erst wieder lernen, Ihr Leben und das Ihrer Familie auch ohne genaue Vorgabe von außen zu gestalten. Gleichzeitig kann Ihnen niemand mit Gewissheit sagen, ob Ihr Kind jetzt für immer gesund sein wird.

Auch wenn Sie das Ende der Therapie herbeigesehnt und sich darauf gefreut haben, Ihr altes Leben wiederaufzunehmen, kann es gut sein, dass viele Fragen auftauchen, die sich erst nach und nach beantworten lassen. Diese Fragen können Sie stark verunsichern und manchmal auch Ängste auslösen:

  • Kann ich nach dem Erlebnis einer lebensbedrohlichen Erkrankung meines Kindes je wieder unbeschwert oder gar glücklich sein?
  • Wie wird mein soziales Umfeld reagieren?
  • Was muss und was will ich in meinem Leben ändern?
  • Wird es meinem Kind gut gelingen, sich wieder in seinen Alltag zu integrieren?

Solche Fragen lösen manchmal den Druck aus, dass Sie schnell Antworten finden müssten.

Die Rückkehr in den Alltag ist ein Prozess: Seien Sie geduldig mit sich selbst. Die meisten Fragen werden sich im Laufe der Zeit und durch Erfahrung klären.

Neben einer starken Verunsicherung empfinden viele Eltern auch unangenehme Gefühle, die sie am liebsten „wegmachen“ würden: Für manche ist alles dumpf und leer, andere fühlen sich unruhig und fast getrieben und einige Eltern empfinden Trauer, Angst oder Sorge. Die Gründe hierfür sind oft in den ungeheuren emotionalen und körperlichen Anstrengungen zu finden, die Ihnen die vergangenen Monate abverlangt haben. Um die Zeit der Therapie bestehen zu können, haben die meisten Eltern ihre eigenen Bedürfnisse über lange Zeit zurückgestellt und übergangen: Fast ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf das kranke Kind und sein Wohlbefinden gerichtet. Jetzt ist wieder Zeit und Raum, sich auch ihren eigenen Bedürfnissen zuzuwenden.

Unangenehme Gefühle von Leere, Trauer oder Sorge sind meist ein Hinweis darauf, dass Sie als Eltern bestimmte eigene Bedürfnisse (noch) nicht wahrgenommen haben und genauer nachspüren sollten, was genau Sie brauchen, damit es Ihnen wieder besser gehen kann.

Beschwerden wie Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Schlaflosigkeit, Gereiztheit oder unklare Schmerzen können Warnsignale Ihres Körpers sein, der fordert, dass Sie sich auch wieder um Ihre eigenen Bedürfnisse kümmern, um nicht selbst krank zu werden. Vermutlich haben Sie oft sehr wenig geschlafen, mussten ständig auf neue Anforderungen reagieren, haben sich vielleicht auch nicht gut ernährt oder eigene körperliche Beschwerden übergangen. Nun ist es an der Zeit, eigene Hobbys langsam wieder aufzunehmen und auf ausreichend Bewegung zu achten (Spaziergänge, Joggen, Fitnessstudio). Vielleicht gelingt es noch nicht gleich wieder, regelmäßig Sport zu treiben, aber jede Art von Bewegung baut Stresshormone ab und hilft Ihrem Körper wieder fitter zu werden.

Gestehen Sie sich zu, dass auch Sie nicht nur Mutter oder Vater Ihres Kindes sind, sondern eigene Bedürfnisse haben, die jetzt wieder mehr in den Vordergrund rücken dürfen. Machen Sie Pause, wann immer möglich und achten Sie vermehrt auf das, was Sie selbst brauchen.

Sie waren in den vergangenen Monaten stark gefordert, die Versorgung Ihres Kindes sicher zu stellen. Das heißt, Sie waren fast ständig aktiv und hatten kaum Zeit und Muße, in sich hinein zu spüren und wirklich zu fühlen, was das alles bei Ihnen ausgelöst hat. Erst jetzt, nach dem Ende der Therapie, macht sich Ihre eigene seelische Belastung bemerkbar: Die Erinnerung an das Leid Ihres Kindes, die Angst um sein Leben, die Beobachtung schwerer Krankheitsverläufe bei anderen Kindern in der Klinik und ähnliches können dazu führen, dass Sie sich manchmal ängstlich fühlen oder Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit empfinden.

Seien Sie geduldig mit sich selbst und vertrauen Sie darauf, dass sich Ihre Seele nach einer angemessenen Zeit wieder erholen wird!

Wenn Sie von heftigen Erinnerungen oder Gefühlen überwältigt werden, suchen Sie Unterstützung bei Menschen, die Ihnen nahestehen oder beim Psychosozialen Dienst der Klinik beziehungsweise den psychosozialen MitarbeiterInnen der Nachsorgeeinrichtung. Sie müssen nicht mit all diesen Erinnerungen und Erlebnissen alleine zurechtkommen!

Wie kann ich auftanken?

Viele Eltern fragen sich, wie sie jetzt wieder auftanken können. Nach der langen Zeit der Anstrengung geht das nicht von heute auf morgen. Sie können auch nicht einfach einen „Schalter umlegen“ und sich wieder so fit, ausgeglichen und unternehmungslustig fühlen wie vor der Erkrankung Ihres Kindes. Wenn irgend möglich, gestehen Sie sich zunächst eine ruhige Zeit des Übergangs und der Erholung zu, die Sie nicht sofort wieder mit neuen Aktivitäten füllen:

  • Nehmen Sie sich vor, an einer familienorientierten Rehabilitationsmaßnahme teilzunehmen und freuen Sie sich darauf.
  • Akzeptieren Sie, dass Sie in den vergangenen Monaten viel geleistet und manchmal gar Übermenschliches zu Wege gebracht haben.
  • Gestehen Sie sich zu, dass Sie jetzt müde und erschöpft sein dürfen.
  • Verlangen Sie nicht von sich selbst, sofort wieder zur Tagesordnung übergehen zu müssen.
  • Halten Sie es aus, manchmal einfach keine Energie zu haben und öfter Pausen zu brauchen.
  • Schlafen Sie, ruhen Sie sich aus, hören Sie Musik oder gehen Sie spazieren.
  • Freuen Sie sich gemeinsam mit Ihrem Kind über alle Zeichen des Wohlbefindens.
  • Achten Sie gut auf Ihre körperlichen Bedürfnisse wie Bewegung oder gesundes Essen.
  • Planen Sie nicht sofort große Aktivitäten, die nur mit viel Aufwand organisiert werden können.
  • Erinnern Sie sich daran, wie Sie sich vor der Erkrankung Ihres Kindes etwas Gutes getan haben und greifen Sie das wieder auf (beispielsweise Treffen mit FreundInnen, Sport, kulturelle Aktivitäten).
  • Während der Zeit der Therapie Ihres Kindes haben Sie Möglichkeiten gelernt, sich „zwischendrin“ etwas Gutes zu tun und sich zu entspannen. Greifen Sie darauf zurück!
  • Manchmal hilft es, sich einfach abzulenken und Zeit mit „unnützen“ Dingen (wie Serien schauen, Handy-Spiele machen) zu verbringen.
  • Beim Aufräumen, Putzen oder Rasen mähen können Sie Ihre Gedanken schweifen lassen und sehen hinterher ein konkretes Ergebnis.
  • Vielleicht können Sie eine Auszeit für sich selbst gestalten (Wellness-Wochenende, FreundInnen-Abend).
  • Verbringen Sie Zeit mit Ihrer Familie, in der alle miteinander spielen oder einfach nur zusammensitzen.

Krankheitsverarbeitung ist jetzt erst möglich

Vom ersten Tag der Diagnosestellung Ihres Kindes an waren Sie damit beschäftigt, die Tatsache dieser Erkrankung irgendwie „einzuordnen“ oder zu „verdauen“. Dieser Prozess beginnt fast immer mit einem Gefühl des Schocks und des Nicht-Wahrhaben-Wollens: Viele Eltern berichten, dass sie damals hofften, alles sei ein Irrtum und sie würden bald wieder aus diesem Alptraum aufwachen. Gleichzeitig haderten die meisten Eltern mit der Erkrankung und fragten sich, warum gerade ihr Kind krank werden musste und ob es nicht doch einen Weg gegeben hätte, ihr Kind davor zu bewahren. In den vergangenen Monaten hatten Sie als Eltern Stück für Stück damit begonnen, die Erkrankung Ihres Kindes als Tatsache anzunehmen und sich in der neuen Realität zurechtgefunden. Sie hatten gelernt, mit den praktischen Erfordernissen umzugehen und Ihr Kind durch diese Zeit zu begleiten.

In den meisten Fällen beginnt die eigentliche Auseinandersetzung damit, was die Krankheit Ihres Kindes für Sie, Ihr Leben und Ihre Familie bedeutet, erst nach dem Ende der Therapie; also dann, wenn nicht mehr Ihr gesamtes Augenmerk und Ihre Energie auf die Planung und Organisation eines Alltags im Zeichen einer schweren Erkrankung gerichtet ist. Durch die Krebserkrankung wurde Ihre Hoffnung, dass Ihre Tochter/Ihr Sohn mit ihrer Hilfe ohne größere Einschränkungen gesund sein und ohne Bedrohung des Lebens unbeschadet alt werden würde, schwer erschüttert.

Was das alles für Sie und Ihre Familie bedeutet (hat), ist individuell verschieden, wird unterschiedlich erlebt und kann nur individuell „verarbeitet“ werden. „Verarbeitung“ oder „Bewältigung“ dieser einschneidenden Lebenserfahrung kann man sich wie einen Weg vorstellen, auf dem alle Aspekte dieser Situation zunächst erinnert, gefühlt, bewertet und schließlich als Teil Ihres Lebensweges eingeordnet werden. Dieser Weg hat kein klar bestimmtes „Ende“, es entstehen Umwege und Rückschritte. Erst im Nachhinein werden Sie erkennen können, dass Ihr Weg der Verarbeitung der Situation sehr persönlich ist und Sie selbst die einzelnen Schritte bestimmen.

Sie sind eine Frau/ein Mann geworden, deren/dessen Kind sehr schwer erkrankt war und im Rahmen dieser Erkrankung/Behandlung viel Unangenehmes und Leidvolles erleben musste. Und Sie konnten dieses Leid nur teilweise lindern. Diese Erfahrung hat Ihre Sicht auf manche Dinge verändert und wird Sie vielleicht dazu bringen, bestimmte Veränderungen in Ihrer Lebensgestaltung anzugehen. Zudem gibt es Narben, die Sie an bestimmte Situationen erinnern werden.

Neben all dem Schweren haben Sie auch gute Erfahrungen machen können, wie beispielsweise:

  • Sie haben eine sehr große Aufgabe bewältigt.
  • Sie haben gelernt, was Ihnen wirklich wichtig ist.
  • Sie wissen, wo Ihre Kraftquellen liegen und was Ihnen hilft, wenn es wirklich „eng“ wird.
  • Sie können sich Unterstützung holen.
  • Sie kennen Ihre Stärken und Grenzen besser.
  • Sie sind empfindsamer geworden.

Lassen Sie sich Zeit für diesen Prozess der Verarbeitung; suchen Sie das Gespräch mit vertrauten Menschen oder mit MitarbeiterInnen des Psychosozialen Teams/der psychosozialen Nachsorge und vertrauen Sie darauf, dass Sie auch trotz dieser Erfahrung weiterhin ein gutes Leben haben können.