Was brauchen Geschwister?

Autor:  Barbara Grießmeier, Iris Lein-Köhler, Zuletzt geändert: 18.07.2023 https://kinderkrebsinfo.de/doi/e241716

Die Bedürfnisse von Schwestern und Brüdern sind je nach Alter, Entwicklungsstand und familiärer Situation unterschiedlich. Als gemeinsame „Überschrift“ steht wahrscheinlich dabei: Geschwister brauchen die Gewissheit, dass sie genauso wichtig und wertvoll wie das kranke Geschwister sind und dass die Eltern sie genauso lieb haben – auch wenn diese jetzt so viel mehr Zeit mit dem kranken Kind verbringen müssen. An diesem Punkt sind die Aufmerksamkeit und der Einfallsreichtum der Eltern gefragt, die alles dafür tun sollten, um den Geschwistern diese Sicherheit glaubhaft zu vermitteln. Natürlich erfordert die Therapie ganz praktisch, dass Eltern mehr Zeit mit dem kranken Kind verbringen als mit den gesunden Geschwistern: Diese sollten trotzdem erleben, dass die Liebe der Eltern gleichmäßig verteilt bleibt.

Erfahrungsgemäß wird das für Geschwister glaubhaft, wenn Eltern die folgenden Aspekte berücksichtigen:

Geschwister brauchen Information

Ebenso wie die kranken Kinder selbst wissen müssen, warum sie krank und öfters im Krankenhaus sind, so sollten auch ihre Schwestern und Brüder über die Krankheit und die Behandlung informiert werden und dabei jeweils so viel erfahren, wie sie selbst wissen wollen. Manche Eltern möchten die Geschwister nicht damit belasten und versuchen, ihnen weitgehend einen unbeschwerten Alltag zu ermöglichen. Wissen die Geschwister allerdings nicht Bescheid, so fühlen sie sich leicht ausgeschlossen aus der engen Beziehung, die zwangsläufig zwischen den Eltern und dem kranken Kind in der Behandlungszeit entsteht und in der diese viel erleben, was sie den Geschwistern so nicht vermitteln können.

Diese wesentlichen Grundbotschaften sollten vermittelt werden:

  • Die Krankheit heißt …
  • Krebs ist nicht ansteckend.
  • Kinderkrebs ist etwas anderes als Krebs bei der Oma.
  • Du bist nicht schuld, dass dein Bruder/deine Schwester krank geworden ist.

Gut informierte Geschwister können meist auch besser mit „Tratsch“ oder Gerüchten umgehen, wenn sie darauf angesprochen werden, dass die Schwester oder der Bruder Krebs hat – und solche Reaktionen sind fast unvermeidlich.

Die Frage, ob Geschwister mit in die Klinik oder auf die Station kommen dürfen, wird in den einzelnen kinderonkologischen Zentren sehr unterschiedlich gehandhabt: Mancherorts können Geschwister den Tag zusammen mit dem kranken Kind und den Eltern in der Klinik verbringen, manchmal gibt es auch eigene Betreuungsmöglichkeiten für Geschwister in der Nähe der Klinik. In vielen Kliniken dürfen allerdings jüngere Geschwister bis zu einem bestimmten Alter nicht auf die Station.

Wenn es diese Möglichkeiten in Ihrer Klinik nicht gibt, ist es umso wichtiger, dass die Geschwister durch Erzählungen oder auch kleine Videos in die vielen praktischen Details mit einbezogen werden, die das kranke Kind und die Eltern in der Klinik erleben und die den neuen Alltag dort ausmachen. Fragen Sie nach, ob es möglich ist, dass die Geschwister zumindest einmal zu Besuch kommen dürfen, um die Kliniksituation mit ihren eigenen Augen kennenzulernen: Kinder verstehen eine ungewohnte Situation besser, wenn sie diese erleben und im wahrsten Wortsinn begreifen können.

Solange gesunde Geschwister noch gestillt werden, können sie in den meisten Kliniken stationär mitaufgenommen werden. Bedenken Sie allerdings, dass Sie sich dann gleich um zwei Kinder kümmern müssen, die Ihre Aufmerksamkeit benötigen. Wenn Sie unsicher sind, was für Ihre Familie die bestmögliche Lösung ist, besprechen Sie das mit dem Psychosozialen Team.

Geschwister brauchen ehrliche Antworten

Auch wenn es sehr verständlich ist, dass Sie als Eltern Ihre gesunden Kinder nicht ängstigen oder beunruhigen wollen, so ist es doch für eine vertrauensvolle Beziehung sehr wichtig, dass sie deren Fragen ehrlich beantworten – so gut es Ihnen eben möglich ist. Auf viele Fragen gibt es vielleicht keine klare Antwort; dann ist es besser „ich weiß es nicht“ zu sagen, als Kinder mit unwahren oder nicht verlässlich haltbaren Versprechungen zu vertrösten. Hilfreich ist vielleicht auch die Haltung, dass Kinder nicht alles wissen müssen – aber alles, was sie erklärt bekommen, sollte wahr sein.

Auch mit Themen, die für Erwachsene als „schwierig“ gelten, können insbesondere jüngere Kinder manchmal ganz unbefangen umgehen. Hier einige Beispiele, wie Sie auf typische Fragen antworten können:

  • „Kann ich die Krankheit auch bekommen?“ – das ist so selten, dass Sie ohne zu lügen mit „Nein“ antworten können.
  • „Muss mein Bruder/meine Schwester sterben?“ – „Das ist eine Krankheit, an der manche Menschen auch sterben können. Die Ärzte werden aber alles tun, damit das nicht passiert.“
  • „Wie lange muss mein Bruder/meine Schwester im Krankenhaus bleiben?“ – antworten Sie hier am besten mit Mindestzeitangaben und fügen Sie gleich hinzu, dass es auch länger dauern kann.

Geschwister brauchen einen geregelten Alltag

Wenn Mutter oder Vater einen großen Teil ihrer Zeit mit dem kranken Kind verbringen (müssen), ist es oft nicht leicht, den Alltag der Geschwister parallel gleichermaßen zu organisieren und aufrecht zu erhalten. Für die Geschwister bringt schon alleine die Tatsache, dass Mutter oder Vater weniger verfügbar sind, oft große Irritationen mit sich – ungeachtet der damit verbundenen Sorgen und Ängste.

Für Geschwister ist es wichtig, dass die Eltern dafür sorgen, dass die Alltagsstruktur möglichst beibehalten werden kann und sowohl familiäre Rituale als auch Schulbesuch und Freizeitaktivitäten ihren Platz behalten.

In den meisten Fällen werden die Eltern die Versorgung und Betreuung der Geschwister nicht wie gewohnt bewältigen können. Überlegen Sie also frühzeitig, wie Sie sich die Betreuung aufteilen können oder wen Sie aus Ihrem Verwandten- oder Freundeskreis bitten können, Sie bei dieser Aufgabe zu unterstützen. Sie sollten sowohl über Ansprechpersonen für regelmäßige Betreuungszeiten als auch für Notfallsituationen verfügen (wenn Sie beispielsweise nachts plötzlich mit dem kranken Kind in die Klinik müssen). Bei der Finanzierung der Betreuung von Geschwistern greift auch die Haushaltshilferegelung der gesetzlichen Krankenkassen.

Darüber hinaus ist es wichtig, dass Sie als Eltern regelmäßig und verlässlich auch für die Geschwister da sind. Vielleicht können Sie feste Zeiten einplanen, in denen Bruder oder Schwester ganz im Vordergrund stehen dürfen und mit Mutter oder Vater gemeinsam etwas unternehmen. Seien Sie realistisch in der Planung und beziehen Sie die Geschwister in die Planung des neuen Alltags unter Behandlungsbedingungen mit ein, so dass sie Verschiebungen einer Verabredung auch nachvollziehen können. Klare Absprachen zwischen den Eltern erleichtern die Organisation der Zuständigkeiten zwischen Klinik und Zuhause und geben den Geschwistern Orientierung, welche Regeln jeweils gelten.

Geschwister brauchen Aufmerksamkeit und Wertschätzung

Ohne Frage werden Sie sich in den nächsten Monaten sehr stark auf Ihr krankes Kind konzentrieren. Sie wollen und müssen es sehr genau beobachten, dürfen nichts übersehen und überhaupt gilt Ihre ganze Sorge seiner Gesundheit und seinem Wohlbefinden. Die Bedürfnisse und Sorgen Ihrer anderen Kinder mögen Ihnen dagegen teilweise „nichtig und klein“ vorkommen – denn schließlich geht es bei Ihrem kranken Kind ja um Leben und Tod.

Doch auch Ihre gesunden Kinder brauchen Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Interesse an den kleinen und größeren Erlebnissen des Alltags: Sie wollen wie immer erzählen, wie es ihnen den Tag über ergangen ist und was sie beschäftigt. Auch wenn Sie nach einem oder mehreren Tagen in der Klinik oft müde sind, versuchen Sie, sich auch den gesunden Kindern noch zuzuwenden und im gemeinsamen Austausch zu erfahren, was ihnen wichtig ist. Informieren Sie auch die ErzieherInnen/LehrerInnen und andere wichtige Bezugspersonen Ihrer gesunden Kinder über die neue Situation, damit diese angemessen mit etwaigen Veränderungen im Verhalten umgehen können.

Manchmal kann die Aufmerksamkeit Anderer für die gesunden Geschwister aber auch zu viel oder sogar unangenehm werden: Etwa wenn Fremde sie darauf ansprechen, dass das kranke Geschwister nun keine Haare mehr hat – und nicht danach fragen, wie es dem kranken Kind geht. Oder sie werden nur danach gefragt wie es der kranken Schwester/dem kranken Bruder geht und keine/r interessiert sich für sie. Besprechen Sie solche Situationen gemeinsam und überlegen Sie, wie die Kinder darauf reagieren könnten.

Wenn Geschwister kranker Kinder über längere Zeit das Gefühl haben, dass sie ihre Eltern nicht mit ihren „kleinen“ Sorgen „belästigen“ dürfen, kann es vorkommen, dass sie sich immer mehr zurückziehen und verschließen. Versichern Sie immer wieder, dass Ihre Kinder alles fragen dürfen und richten Sie „Exklusivzeiten“ dafür ein, auch wenn diese nur kurz sind.

Wenn die Geschwister ebenfalls körperliche Symptome (wie beispielsweise Bauchschmerzen) entwickeln, nehmen Sie diese ernst und hören genau hin: Was kann der Grund für diese Beschwerden sein? Nur selten werden solche Symptome bewusst eingesetzt, um ebenfalls Zuwendung zu bekommen.

Manche Kinder strengen sich nun in der Schule besonders an, um vielleicht dadurch Lob und Anerkennung von Eltern oder Lehrern zu bekommen. Es kann aber auch sein, dass Geschwister in den schulischen Leistungen nachlassen, weil sie zu sehr mit der familiären Situation beschäftigt sind, sich alleine gelassen fühlen oder weil sie befürchten: „Das interessiert ja sowieso keinen.“ Versuchen Sie unbedingt, dem schulischen Bereich Ihre Aufmerksamkeit zu widmen, um den Geschwistern zu zeigen, dass Ihnen ihre Bemühungen wichtig sind. Loben Sie Ihre gesunden Kinder dafür, wenn sie manches nun selbständiger erledigen und hier wichtige Entwicklungsschritte machen.

Ein anderes wichtiges Thema sind Geschenke: Wahrscheinlich wird das kranke Kind von allen Seiten reichlich mit Geschenken bedacht – in dem gut gemeinten Wunsch, ihm etwas Gutes zu tun. Für Geschwister ist das oft eine schwierige Situation: Viele empfinden diesen „Geschenkeregen“ als ungerecht und wünschen sich vielleicht sogar, selbst krank zu werden, damit sie auch Geschenke bekommen. Achten Sie in Ihrem Verwandten- und Freundeskreis darauf, dass auch Geschwister nicht zu kurz kommen.

Geschwister wollen etwas beitragen dürfen

Die Geschwister kranker Kinder erleben, dass ihre Eltern auf allen Ebenen damit beschäftigt sind, die Versorgung aller Kinder zu regeln und dem kranken Kind jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Auch wenn Ihre anderen Kinder noch klein sind, möchten sie auch einen Beitrag leisten dürfen. Sie erleben ja, dass das kranke Kind oft nicht so fit ist wie früher, sich vielleicht häufiger ausruhen muss und nicht mehr so viel mit ihnen spielen kann. Ermutigen Sie Ihre anderen Kinder dazu, auszuprobieren, was möglich ist: Kuscheln, Spielen, Getränke bringen – oder auch Ideen zu entwickeln, wie Kontakte in die Klinik gehalten werden können. Größere Kinder können einen Beitrag leisten, indem sie sich selbst um ihre Angelegenheiten oder um kleinere Geschwister kümmern – ohne dass sie deshalb ein dritter Elternteil werden und sich vielleicht auch selbst überfordern. So können alle wichtige Aufgaben übernehmen und ein geschätzter Teil der Familie bleiben.