Spiritualität und Religion
Autor: Barbara Grießmeier, Iris Lein-Köhler, Zuletzt geändert: 19.07.2023 https://kinderkrebsinfo.de/doi/e243020
In einer existentiellen Krise – und als solche kann die lebensbedrohliche Erkrankung eines Kindes eingeordnet werden – spielen für sehr viele Menschen auch Fragen nach Spiritualität oder religiöser Anbindung (wieder) eine Rolle. Die Angst um das Leben des eigenen Kindes ist vielleicht die größte Erschütterung, der eine Mutter oder ein Vater ausgesetzt sein kann.
Gerade in der heutigen Zeit, in der es sich in Westeuropa sicher leben lässt und wo der Staat seine BürgerInnen weitgehend sozial absichert, werden Eltern durch die Krankheit ihres Kindes auf Kernfragen des Lebens zurückgeworfen:
- Woher kommen wir?
- Wohin gehen wir?
- Warum gibt es Leid in der Welt?
- Warum muss ich/mein Kind leiden?
- Welchen Sinn kann das Leben haben angesichts dieser Krankheit?
- Gibt es einen Gott – und wenn ja, warum lässt er so etwas zu?
Solche oder ähnliche Fragen können im Laufe der Zeit in Ihnen auftauchen. Manche Eltern glauben auch, die Krankheit ihres Kindes könnte eine Strafe sein und sie müssten sich nun einer bestimmten spirituellen Praxis oder einer Religionsgemeinschaft zuwenden, um ihr Kind zu „retten“ und um mögliche Verfehlungen wieder gut zu machen.
Im Unterschied zu früheren Zeiten gibt es in unserer heutigen Gesellschaft keine übergeordnete Kultur oder Religion mehr, der sich die meisten Menschen gleichermaßen zugehörig fühlen und die für alle gültige Antworten auf diese Fragen bereithalten würde. Die zunehmende Individualisierung bringt es mit sich, dass jede/r Einzelne sich selbst Gedanken über den eigenen, weltanschaulichen Standpunkt machen muss. Ein Kind wird heute nicht mehr automatisch in eine bestimmte Religion oder Weltanschauung hineingeboren, die auch Halt und Sicherheit bieten kann: Unsere multikulturell ausgerichtete Welt macht es möglich, dass sich jeder Mensch aus einer breiten Palette der Angebote selbst aussucht, was er glaubt oder nicht.
Auch wenn Sie sich als Eltern bisher wenig oder gar nicht mit solchen Themen beschäftigt haben, kann es sein, dass in der momentanen Situation eine gewisse Sehnsucht nach Spiritualität oder religiöser Anbindung in Ihnen wächst – unabhängig von Ihrem bisherigen Hintergrund. Letztlich geht es dabei vielleicht um etwas „Höheres“, ein Aufgehoben- und Gehaltensein – egal, wie die Krankheit Ihres Kindes verlaufen wird.
Es kann aber auch sein, dass Sie die eigene fehlende Auseinandersetzung mit diesen Themen nun als schuldhaft erleben und dass Sie glauben, Ihr Kind sei krank geworden, weil Sie eben nicht geglaubt und gebetet oder sich von einer früheren spirituellen Praxis abgewandt haben.
Sollten Sie selbst eher mit dem christlichen Kulturkreis vertraut sein, kann es sein, dass Sie Zweifel an allem bekommen, was Sie bisher über Gott und seine Rolle in Ihrem Leben geglaubt oder erfahren haben. Wie können Sie noch an einen Gott glauben, der solches Leid in Ihrem Leben zulässt? Über Jahrtausende wurden Menschen immer wieder mit dieser Frage konfrontiert und Sie dürfen sicher sein, dass sich MitarbeiterInnen der Klinikseelsorge oder auch der lokalen Kirchengemeinden als GesprächspartnerInnen zur Verfügung stellen werden, um diese Glaubenskrise mit Ihnen durchzustehen. Mit den MitarbeiterInnen des Psychosozialen Teams über Ihre Gedanken und Gefühle zu sprechen, kann ebenfalls erleichtern und klären helfen.
Wenn Sie aus dem muslimischen oder einem anderen Kulturkreis kommen, sind Sie möglicherweise damit vertraut, dass das Leben jedes einzelnen Menschen vorherbestimmt ist oder dass Krankheit als Strafe für ein nicht gottgefälliges Leben angesehen wird. Vielleicht glauben Sie auch, dass diese Krankheit in ihre Familie gekommen ist, weil andere Sie mit dem „bösen Blick“ bedroht haben. Wenn Sie solche Vorstellungen als belastend und nicht als unterstützend wahrnehmen, zögern Sie nicht, sich GesprächspartnerInnen in Ihrem Umfeld oder beim Psychosozialen Team zu suchen.
Die Anbindung an eine religiöse Gemeinschaft, an eine Gemeinde oder eine andere spirituelle Praxis wird von vielen Menschen in einer Krisensituation als tröstlich und hilfreich erlebt. Auch wenn es auf die großen Fragen des Lebens keine einfachen Antworten geben kann, ist die Verbindung mit anderen bei der Suche nach Antworten doch sehr hilfreich. Die Möglichkeit, den eigenen Schmerz, die Angst und die Hilflosigkeit vor Gott (oder einer Höheren Macht) bringen zu können – sei es in Liedern, im Gebet, in der Meditation oder einer anderen spirituellen Praxis - kann Halt in der Unsicherheit geben.
Wenn Sie eine solche Anbindung suchen, zögern Sie nicht, um Rat und Hilfe zu fragen. Achten Sie auch hier darauf, ob Sie sich dabei wohl fühlen oder ob etwa Druck ausgeübt wird, Schuldgefühle erzeugt oder gar finanzielle Forderungen erhoben werden. Wenn Sie auf Ihre innere Stimme hören, werden Sie den für Sie richtigen Weg finden.