Wie reagieren Kinder/Jugendliche auf die Behandlung einer Krebserkrankung?
Autor: Barbara Grießmeier, Iris Lein-Köhler, Zuletzt geändert: 11.07.2023 https://kinderkrebsinfo.de/doi/e232421
Für alle Kinder und Jugendlichen, bei denen eine Krebserkrankung festgestellt wird, bedeutet der Beginn der Behandlung eine massive Veränderung ihres bisherigen Alltags: Das Leben wird für viele Monate durch die Vorgaben des Behandlungsprotokolls und die jeweils aktuellen Veränderungen des körperlichen Befindens bestimmt. Die altersgerechten Routinen wie Kindergarten, Schule oder Ausbildung kommen meist vollständig zum Erliegen. Die Klinik wird zum zweiten Zuhause. Kontakte mit Familie und Freunden sind nicht oder nur eingeschränkt möglich, die notwendige Isolation führt oft zu einem Gefühl des Ausgegrenztseins.
Sowohl die Kinder als auch ihre Eltern müssen die Kontrolle über wesentliche Aspekte ihres Lebens abgeben und den Anforderungen der Behandlung beziehungsweise den Ärzten überlassen. Damit verbunden ist der Verlust von Selbständigkeit und körperlicher Unversehrtheit. Je älter die Kinder und Jugendlichen sind, desto schwerer wiegt der Verlust der Selbständigkeit und umso heftiger können auch Reaktionen wie Widerstand und Trotz, aber auch innerer Rückzug und depressive Verstimmungen ausfallen.
Kinder und Jugendliche erleben, dass sich ihre Freunde und SchulkameradInnen zurückziehen oder gar nicht mehr melden – sei es aus Unsicherheit oder Überforderung. Die PatientInnen teilen das Leben der KlassenkameradInnen nur noch aus der Ferne oder über soziale Medien und fragen sich oft, ob sie hier je wieder den Anschluss finden können. Sowohl die Krebserkrankung selbst, als auch die sichtbaren körperlichen Veränderungen können wie ein Stigma erlebt werden, das Kinder und Jugendliche aus der Gemeinschaft der AltersgenossInnen ausschließt. Der Verlust von Kontakten und Freundschaften wird oft als besonders schwerwiegende Folge der Behandlung empfunden.
Manche Kinder und Jugendlichen haben sich vor der Diagnosestellung schon längere Zeit nicht wohl gefühlt. Sie waren vielleicht müde und schlapp oder hatten Schmerzen. Andere Kinder dagegen hatten fast gar keine Symptome und fühlten sich subjektiv gar nicht krank. Für alle Kinder bedeutet die nun beginnende Therapie (in den meisten Fällen eine Chemotherapie) eine mehr oder weniger massive körperliche Belastung. Viele erleben die zahlreichen medizinischen Maßnahmen wie Punktionen, Untersuchungen, Infusionen, Tablettenschlucken und deren Auswirkungen und Nebenwirkungen zunächst als herausfordernder oder „schlimmer“ als die Krankheit selbst.
Oft verändert sich der Körper bzw. das Aussehen durch starke Gewichtszuname oder -abnahme, durch den Verlust der Haare, durch Hautveränderungen oder Operationen. Manchmal kommt es zu Infektionen, schmerzhaften Entzündungen der Mundschleimhaut, zu Übelkeit und Appetitverlust. Im Laufe der Zeit lernen die Kinder außerdem, dass der nächste Abschnitt der Therapie voraussichtlich wieder die gleichen unangenehmen Nebenwirkungen mit sich bringen kann und sie wollen deshalb nur ungern in die Klinik kommen. Die Notwendigkeit zur ständigen, aktiven Mitarbeit ist für viele Kinder eine große Herausforderung.
All diese Nebenwirkungen sind sozusagen der „Preis“ für die Hoffnung auf Heilung; in seltenen Fällen wird auch ein Aufenthalt auf einer Intensivstation nötig.
Neben den praktischen und körperlichen Auswirkungen der Behandlung müssen sich die Kinder und Jugendlichen auch mit den emotionalen Folgen auseinandersetzen: Sie werden viel stärker als in ihrem bisherigen Leben mit starken Gefühlen wie Trauer, Angst und Enttäuschung konfrontiert und müssen den Umgang damit oft erst lernen. Manche PatientInnen lernen auch bei ihren Eltern Emotionen kennen, die ihnen sonst nicht vertraut sind und die sie verunsichern. Selbst jüngere Kinder spüren oftmals die Bedrohung, die nun über ihrem Leben liegt – auch wenn die Erwachsenen das ihnen gegenüber gar nicht direkt ansprechen und sie erleben die Verunsicherung ihrer Eltern, die ihnen vielleicht nicht mehr den gewohnten Halt bieten können. Die Angst, dass die Behandlung nicht zum gewünschten Erfolg führen und die Krankheit letztlich nicht heilbar sein könnte, beschäftigt neben den Eltern auch immer die Kinder selbst.
Zusätzlich erleben die Kinder und Jugendlichen nicht nur ihre eigene Krankheitsgeschichte, sondern werden in der Klinik auch mit dem Leid und manchmal dem Sterben von MitpatientInnen konfrontiert.
All diese Belastungen während der Behandlung können unterschiedliche Reaktionen bei Kindern und Jugendlichen auslösen, die in den meisten Fällen der Situation angemessen sind und nicht als krankhaft bezeichnet werden sollten. Hierzu können gehören: starke Ängste, Trauer, Hilflosigkeit, Erschöpfung und Enttäuschung, aber auch der Wunsch nach großer Nähe zu den Eltern oder der Rückfall in frühere Entwicklungsstufen verbunden mit entsprechenden Auffälligkeiten wie beispielsweise Einnässen oder Daumenlutschen. Die Behandlung bringt eine Vielzahl neuer Regeln für die Gestaltung des Alltags mit sich und viele Kinder sind stark verunsichert, was sie jetzt eigentlich noch „dürfen“ und was nicht.
Viele Kinder und Jugendliche entwickeln aber auch bisher unbekannte Stärken und tragen dazu bei, ihren Eltern und Geschwistern die Bewältigung der Situation zu erleichtern; andere gehen sehr humorvoll mit ihren Einschränkungen um: Viele werden sogar ein Stück „weiser“ und reifer.