Das Rückenmark (Medulla spinalis) und seine Nerven

Autor:  PD Dr. med. Gesche Tallen, Redaktion:  Maria Yiallouros, Zuletzt geändert: 04.07.2016 https://kinderkrebsinfo.de/doi/e28254

Dieser Abschnitt soll eine Übersicht über den Aufbau und die Aufgaben des Rückenmarks geben und aufzeigen, wie es mit den anderen Teilen des Nervensystems zusammenarbeitet. So lässt sich beispielsweise leichter verstehen, wie bestimmte Arten von Lähmungen entstehen, welche wichtigen Informationen der Arzt bei der klinischen Untersuchung durch das Klopfen mit dem Reflexhammer erhält, und warum der Neurochirurg bestimmte Rückenmarkstumoren nicht operiert.

Aufbau des Rückenmarks

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Das Rückenmark (Medulla spinalis) liegt im Wirbelsäulenkanal (auch Rückenmarkskanal oder Spinalkanal genannt), der von den übereinander-
liegenden Wirbellöchern der Wirbel gebildet wird.


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Das Rückenmark ist von Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit (Liquor) und den drei Rückenmarkshäute umgeben: der harten Rückenmarkshaut (Dura mater), der Spinngewebshaut (Arachnoidea) und der weichen Rückenmarkshaut (Pia mater) (siehe auch Einführungsseite zu Kapitel "Das ZNS").

Am unteren Ende verjüngt sich das Rückenmark zum Conus medullaris und endet als dünner Strang (Filum terminale). Vom Conus medullaris an enthält der Wirbelkanal nur noch eine dichte Masse von abwärts laufenden Nervenfasern (Spinalwurzeln), die man als Cauda equina (Pferdeschwanz) zusammenfasst.

Das Rückenmark wird von zwei Quellen aus mit Blut versorgt: von den Wirbelarterien und von den Segmentarterien [siehe Arterie]. Die Rückenmarksvenen bilden ein Netzwerk, das mit den Nervenwurzeln verläuft und in größere Venen auf der harten Rückenmarks-/Hirnhaut mündet.

Bezug zur Kinderkrebsheilkunde: Bei Kindern liegt das Ende des Rückenmarks ungefähr in Höhe des vierten Lendenwirbels. Unterhalb dieses Bereiches ist es üblich, Lumbalpunktionen durchzuführen, da auf dieser Höhe kaum Gefahr besteht, das Rückenmark oder eine Nervenwurzel zu verletzen.

Funktion des Rückenmarks: Nachrichtenvermittlung zwischen Gehirn und anderen Körperorganen

Die Nervenzellkörper (graue Substanz) liegen im Rückenmark innen und ihre Verteilung erinnert an eine Schmetterlingsfigur, die von den Nervenfaserbahnen (weiße Substanz) umgeben ist.

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Rückenmark und Wirbelkanal im Querschnitt
(© bilderzwerg - Fotolia.com)

Man unterscheidet in der grauen Substanz:

  • das Hinterhorn: Es enthält die Nervenzellkörper, die für die Weiterleitung von Gefühlsempfindungen wie Berührung oder Schmerz aus dem Körperinneren oder aus der Umwelt zum Gehirn verantwortlich sind (sensible Nervenzellen).
  • das Vorderhorn: Es enthält die Nervenzellen, die für die Weiterleitung von Befehlen vom Gehirn an die Muskeln verantwortlich sind (motorische Nervenzellen).
  • das Seitenhorn: Es enthält Nervenzellen des autonomen Nervensystems (vegetative Nervenzellen). (autonomes Nervensystem; siehe auch Kapitel "Vegetatives Nervensystem")

Weiße Substanz

Die weiße Substanz enthält die entsprechend zugehörigen Nervenfaserbahnen. Sie leiten die Erregungen aus dem Körperinneren oder der Umwelt zum Gehirn (afferente Bahnen) oder vom Gehirn zurück zu den Organsystemen (efferente Bahnen) weiter oder aber hemmen diese Nachrichtenübermittlung.

Die größte vom Gehirn durch das Rückenmark absteigende Bahn ist die Pyramidenbahn (siehe auch Kapitel "Funktionelle Systeme"). Im gesunden Rückenmark werden wichtige Signale weitergegeben, unwichtige gehemmt.

Spinalnerven

An beiden Seiten des Rückenmarks treten Nervenfasern ein und aus, die sich erst zu Nervenwurzeln (Vorder- und Hinterwurzeln) vereinigen und sich im weiteren Verlauf zum Spinalnerv zusammenzuschließen.

Der Spinalnerv enthält alle Fasern, aufsteigende (afferente) wie absteigende (efferente), und geht in Nerven des peripheren Nervensystems über [peripheres Nervensystem]. Diese versorgen dann beispielsweise innere Organe, Haut, Muskeln und Blutgefäße mit Befehlen vom Gehirn oder nehmen deren Nachrichten zur Weiterleitung zum Gehirn entgegen.

Periphere Nerven sind also die "Nachrichtenkanäle", die dem Rückenmark alle Arten von Erregungen aus der Umwelt und aus dem Körperinneren zuführen beziehungsweise die Reizantworten von Rückenmark oder Gehirn wieder in die Umgebung (Peripherie) leiten.

Im Spinalnerv, also kurz vor Eintritt ins / Austritt aus dem Rückenmark, erfolgt die Aufteilung in die Fasern der auf- und absteigenden (afferenten und efferenten) Bahnen. Beim Menschen zählt man in der Regel 31 Spinalnervenpaare, die jeweils seitlich aus dem Wirbelsäulenkanal austreten. Jedes Spinalnervenpaar versorgt ein Körpersegment (Dermatom).

Reflexe

Manche Erregungen (Reize) werden von den aufsteigenden Bahnen im Rückenmark gar nicht erst zum Gehirn weitergeleitet, sondern unmittelbar auf derselben oder einer höher gelegenen Rückenmarksebene umgeschaltet. Die aufsteigenden Fasern verlaufen in diesem Fall statt zum Gehirn direkt zu Zellen des Vorderhorns und übertragen dort die Erregung. Diese wird dann automatisch über die absteigenden Fasern sofort wieder an die Muskelzelle weitergeleitet.

Diesen Weg der Erregungsübertragung nennt man Reflexbogen, und eine so ausgelöste Muskelreaktion nennt man Reflex. Durch Reflexe wird eine schnelle, automatische Reaktion ausgelöst, ohne dass das Gehirn dazu "eingeschaltet" wird, also ohne dass gedacht werden muss.

Reflexe werden bei jeder körperlichen Untersuchung geprüft. Dabei wird zwischen Eigenreflexen und Fremdreflexen unterschieden.

Eigenreflex

Bei einem Eigenreflex wird ein Muskel durch einen sachten Schlag auf eine Sehne kurz gedehnt. Durch diese Reizung wird der oben beschriebene Reflexbogen ausgelöst, der die betroffene Rückenmarksebene nicht verlässt. Als Gegenreaktion kommt es zu einer kurzen Muskelanspannung.

Bei der Prüfung der Eigenreflexe wird unter anderem die Stärke dieser Muskelanspannung bewertet. Beispiel für einen Eigenreflex ist der Patellarsehnenreflex (ausgelöst durch einen kurzen Schlag auf die Sehne unterhalb der Kniescheibe, nach dem das Bein dann im Kniegelenk kurz gestreckt wird).

Fremdreflex

Bei einem Fremdreflex gehören Reizempfänger und Reizbeantworter verschiedenen Organsystemen an. Es werden Sinneszellen in der Haut gereizt und dadurch ein Reflexbogen ausgelöst, der sich über verschiedene Höhen des Rückenmarks (des Hirnstamms) ausbreitet. Die zugehörige Muskelantwort besteht aus einer Fluchtbewegung.

Beispielsweise kommt es beim Babinski-Reflex durch Bestreichen des Fußsohlenrandes zu einer Streckung von Fuß und Großzehe sowie Spreizung der übrigen Zehen im Sinne einer Fluchtreaktion, die den schädigenden Reiz entfernen soll. Dieses Babinski-Phänomen ist normal für Neugeborene und Kinder im ersten Lebensjahr. Bleibt er länger nachweisbar oder tritt bei älteren Kindern neu auf, kann das ein Zeichen für eine Schädigung der Nachrichtenweiterleitung im Rückenmark sein.

Im Allgemeinen deuten abgeschwächte Reflexe auf eine Schädigung im Bereich des peripheren Nervensystems hin [siehe peripheres Nervensystem], gesteigerte Reflexe auf Störungen des Zentralnervensystems. Deshalb bedürfen Auffälligkeiten bei der Reflexprüfung immer weiterer Abklärung.

Bezug zur Kinderkrebsheilkunde

Das Rückenmark beziehungsweise die auf- und absteigenden Bahnen im Rückenmark können zum Beispiel durch einen Tumor geschädigt werden, der auf bestimmte Regionen im äußeren (peripheren) Bereich des Rückenmarks drückt oder der sich sogar im Mark, also innerhalb (zentral) dieser Bahnen befindet. Für eine entsprechende Schädigung dieser Bereiche sprechen unter anderem:

  • Störungen der Gefühlswahrnehmung bestimmter Körpersegmente (Dermatome; siehe Abschnitt zu Spinalnerven oben);
  • Reflexstörungen (siehe Abschnitt zu Reflexen oben)
  • Störungen der Körperhaltung
  • Gleichgewichtsstörungen
  • Lähmungen von Muskeln. Dabei spricht man von "Parese", wenn noch eine Restbeweglichkeit vorhanden ist und von "Plegie", wenn eine vollständige Lähmung vorliegt, das betroffene Gliedmaß also nicht mehr ohne fremde Hilfe bewegt werden kann.

Im Folgenden erhalten Sie einige Beispiele für verschiedene Lähmungen mit Ursache im Rückenmark (spinale Lähmungen).

Zentrale spinale Lähmung

Werden beispielsweise vermehrt "unwichtige" Erregungen zum Gehirn und entsprechend zu viele und "unwichtige" Befehle an die Muskelzellen weitergeleitet, weil die Hemmung in den auf- und/oder absteigenden Nervenfaserbahnen des Rückenmarks wegen einer zentral, also im Mark gelegenen Schädigung nicht mehr richtig funktioniert, so ist eine erhöhte Muskelspannung mit Bewegungseinschränkung der Gliedmaßen die Folge.

Dieses Phänomen wird unter anderem für die Entstehung einer spastischen Lähmung verantwortlich gemacht. Eine spastische Lähmung kann ein Zeichen für Schädigungen im Bereich der vom Gehirn durch das Rückenmark absteigenden Bahnen sein.

Periphere spinale Lähmung

Wenn, umgekehrt, in den auf- oder absteigenden Bahnen zu viel gehemmt wird, erhalten die Muskelzellen zu wenige erregende Impulse und es entsteht eine schlaffe Lähmung. Dabei haben die betroffenen Muskeln keine Spannkraft mehr und das zugehörige Gliedmaß hängt schlaff herab.

Eine solche periphere spinale Lähmung entsteht zum Beispiel dann, wenn ein Tumor die Erregungsleitung im Bereich des Vorderhorns, oder weiter außen (peripher), das heißt bereits vor Eintritt in das Rückenmark oder nach Austritt aus dem Rückenmark (im Bereich der Nervenwurzeln oder der Spinalnerven), schädigt.

Halbseitenlähmung (inkompletter Querschnitt)

Eine Halbseitenlähmung entsteht, wenn die Nervenfaserbahnen einer gesamten Rückenmarkshälfte unterbrochen werden.

Komplette spinale Querschnittslähmung

Eine komplette spinale Querschnittslähmung kann zum Beispiel durch einen Tumor im Rückenmark ausgelöst werden, der durch sein Ausmaß den Querschnitt eines gesamten Rückenmarksabschnittes schädigt, so dass alle auf- und absteigenden Bahnen unterbrochen werden. So kommt es für beide Körperhälften einerseits zum Ausfall von Gefühlsempfindungen, andererseits können keine Befehle mehr an die Muskeln weitergeleitet werden.

Das Ausmaß dieser Querschnittslähmung ist einerseits abhängig davon, auf welcher Höhe des Rückenmarks sich der Tumor befindet (hohes oder unteres Halsmark, Brustmark, unterer Abschnitt des Rückenmarks), und andererseits davon, wie viel des Querschnittes er einnimmt.

Entsprechend kann eine Schädigung im hohen Halsmark, das heißt in Höhe des ersten bis vierten Halswirbelkörpers, die Erregungsleitung von und zu allen darunter liegenden Körpersegmenten wie Zwerchfell, Armen, Beinen, Blase und Mastdarm unterbrechen. Dies führt zu Atemlähmung, Lähmungen und Gefühlsausfällen aller vier Gliedmaßen und der Blasen- und Mastdarmfunktion führt. Spinale Querschnittsläsionen führen oft unmittelbar erst zu schlaffen Muskellähmungen, die später in spastische Lähmungen übergehen.

Anmerkung: Die Funktion mancher dieser auf- und absteigenden Bahnen wird im Rahmen der Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit ZNS-Tumoren mittels elektrophysiologischer Untersuchungen überprüft, beispielsweise durch die Messung von sensibel-evozierten Potentialen [siehe evozierte Potentiale].